Schwangerschaft kostet jeden Zahn?

Schwangerschaft kostet jeden Zahn?

| 14.12.2023 |

Die jahrhundertealte Volksweisheit „Jedes Kind kostet einen Zahn" hält sich hartnäckig in den Köpfen werdender Mütter. Doch was ist wirklich dran an dieser Behauptung? Eine Analyse der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zeigt ein differenziertes Bild zwischen Mythos und Realität.

Wenn Hormone das Zahnfleisch erobern

Die Schwangerschaft bringt dramatische hormonelle Veränderungen mit sich, die das orale Ökosystem grundlegend beeinflussen. Gegen Ende des dritten Trimesters erreichen die Progesteronspiegel Werte von bis zu 100 ng/mL und Östrogen 6 ng/mL – ein Anstieg, der das Parodontium nicht unbeeindruckt lässt 1. Diese hormonellen Umwälzungen führen zu einer erhöhten vaskulären Permeabilität des Zahnfleisches, verstärkter Entzündungsbereitschaft und einer signifikanten Veränderung der oralen Mikrobiota.

Die Folgen sind messbar: Zwischen 30 und 100 Prozent aller Schwangeren entwickeln eine Schwangerschaftsgingivitis, die sich typischerweise gegen Ende des ersten Trimenons manifestiert und im achten Schwangerschaftsmonat ihren Höhepunkt erreicht 2. Die erhöhten Hormonspiegel stimulieren nicht nur die Produktion proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin-6 und -8, sondern begünstigen auch das Wachstum pathogener Bakterien wie Porphyromonas gingivalis und Prevotella intermedia 3.

Parallel dazu verändert sich die Speichelzusammensetzung: Die Pufferkapazität nimmt ab, der pH-Wert sinkt, und die Konzentration des kariesverursachenden Streptococcus mutans steigt an. Diese Konstellation erhöht das Kariesrisiko erheblich und kann bei unzureichender Prophylaxe tatsächlich zu Zahnverlust führen – allerdings nicht durch die Schwangerschaft selbst, sondern durch die daraus resultierende Pathologie 4.

Mythen im Faktencheck

Die systematische Analyse von Kamalabadi et al. (2023) untersuchte weltweite Überzeugungen zur Zahngesundheit in der Schwangerschaft und deckte erhebliche regionale Unterschiede auf. Während in Kenia 86 Prozent der Befragten an den direkten Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und Zahnverlust glauben, konnte in anderen Studien keine einzige Teilnehmerin dieser Annahme etwas abgewinnen 5.

Die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig: Es existiert kein kausaler Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und Zahnverlust. Epidemiologische Untersuchungen zeigen zwar, dass Frauen mit mehr Kindern häufiger fehlende Zähne aufweisen, doch Russell et al. erklären diesen Zusammenhang durch die kumulative Wirkung unbehandelter Parodontalerkrankungen aufgrund mangelnder präventiver Versorgung 6.

Besonders hartnäckig hält sich der Mythos, dass der Fetus Kalzium aus den mütterlichen Zähnen „absaugt". Auch hier widerspricht die Forschung: Messungen der Mineralkonzentration extrahierter Zähne zeigten keine Unterschiede zwischen schwangeren und nicht-schwangeren Frauen. Der mütterliche Kalziumstoffwechsel greift bei Bedarf auf die Knochenreserven zurück, nicht auf die Zahnhartsubstanz 7.

Komplexe Wechselwirkungen zwischen Mutter und Kind

Die Beziehung zwischen Parodontalerkrankungen und Schwangerschaftskomplikationen erweist sich als bidirektional und hochkomplex. Aktuelle Forschungsergebnisse von Wen et al. (2023) beschreiben drei Hauptmechanismen, über die sich beide Zustände gegenseitig beeinflussen 8.

Erstens können parodontale Pathogene über die Blutbahn die fetoplazentare Einheit erreichen. Fusobacterium nucleatum nutzt dabei spezielle Adhäsine wie FadA, um die Endothelbarriere zu überwinden und Plazentagewebe zu infizieren. Zweitens führen systemische Entzündungsreaktionen zu erhöhten Zytokinspiegeln, die Uteruskontraktionen stimulieren und das Risiko für Frühgeburten erhöhen können. Drittens stört die parodontale Infektion das immunologische Gleichgewicht zwischen Th1/Th17- und Th2/Treg-Zellen, das für eine erfolgreiche Schwangerschaft essentiell ist.

Umgekehrt macht die schwangerschaftsbedingte Immunsuppression – notwendig für die fetale Toleranz – Frauen anfälliger für orale Infektionen. Diese komplexen Wechselwirkungen erklären, warum Schwangere mit Parodontitis ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten, niedriges Geburtsgewicht und Präeklampsie aufweisen, auch wenn die kausalen Zusammenhänge noch nicht vollständig geklärt sind 9.

Evidenzbasierte Strategien für die Praxis

Die aktuellen Erkenntnisse haben direkte Konsequenzen für die zahnärztliche Versorgung schwangerer Patientinnen. Präventive Maßnahmen sollten bereits bei Kinderwunsch beginnen und umfassen eine gründliche parodontale Diagnostik, professionelle Zahnreinigungen und die Optimierung der häuslichen Mundhygiene.

Während der Schwangerschaft empfiehlt sich ein strukturiertes Vorgehen: Im ersten Trimenon steht die Beratung im Vordergrund, das zweite Trimenon eignet sich optimal für therapeutische Interventionen, und im dritten Trimenon sollte die Vorbereitung auf die frühkindliche Kariesprävention erfolgen 10. Antimikrobielle Mundspüllösungen mit Chlorhexidin können bei persistierender Gingivitis als adjuvante Therapie eingesetzt werden.

Die Fluoridanwendung bleibt auch in der Schwangerschaft unbedenklich und notwendig. Die Plazenta fungiert als effektive Barriere gegen übermäßige Fluoridaufnahme, sodass keine Gefahr einer intrauterinen Fluorose besteht. Systemische Fluoridgaben für das ungeborene Kind sind dagegen obsolet, da sie keinen zusätzlichen Kariesschutz bieten 11.

Interdisziplinäre Kooperationen zwischen Zahnärzten und Gynäkologen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Die Integration oraler Gesundheitsaspekte in die Schwangerenvorsorge kann sowohl mütterliche als auch kindliche Gesundheitsoutcomes verbessern und zur Aufklärung über persistierende Mythen beitragen.

Neue Horizonte in Forschung und Therapie

Die Zukunft der perinatalen Zahnmedizin wird maßgeblich durch molekularbiologische Fortschritte geprägt. Aktuelle Forschungsprojekte untersuchen das orale Mikrobiom als Biomarker für Schwangerschaftskomplikationen und entwickeln personalisierte Präventionsstrategien basierend auf individuellen Risikoprofilen.

Besonders vielversprechend sind Ansätze zur gezielten Modulation der oralen Mikrobiota durch Probiotika oder präbiotische Substanzen. Erste Studien zeigen, dass bestimmte Lactobacillus-Stämme die pathogene Flora verdrängen und Entzündungsreaktionen reduzieren können 12.

Technologische Innovationen wie KI-gestützte Diagnostik ermöglichen eine präzisere Risikoeinschätzung und individualisierte Behandlungsplanung. Digitale Gesundheitsplattformen könnten die Vernetzung zwischen verschiedenen Fachrichtungen verbessern und Schwangeren einen besseren Zugang zu evidenzbasierten Informationen ermöglichen.

Aufklärung als Schlüssel zum Erfolg

Der hartnäckige Mythos „Jedes Kind kostet einen Zahn" entpuppt sich als gefährliche Halbwahrheit. Nicht die Schwangerschaft selbst schädigt die Zähne, sondern die daraus resultierende erhöhte Krankheitsanfälligkeit bei unzureichender Prävention. Die Lösung liegt nicht in fatalistischer Akzeptanz, sondern in gezielter Aufklärung und evidenzbasierter Betreuung.

Moderne Zahnmedizin kann durch rechtzeitige Intervention und individualisierte Prophylaxe den schwangerschaftsbedingten oralen Veränderungen erfolgreich begegnen. Die Devise lautet daher: Nicht jedes Kind muss einen Zahn kosten – wenn die richtigen Maßnahmen zur richtigen Zeit ergriffen werden. Die Verantwortung liegt bei allen Beteiligten: Zahnärzten, Gynäkologen und nicht zuletzt den werdenden Müttern selbst, die durch informierte Entscheidungen ihre orale Gesundheit und die ihrer Kinder schützen können.

Quellen:
  1. Susanto, A., et al. (2024). Hormonal changes as the risk factor that modified periodontal disease in pregnant women: A systematic review. Journal of International Oral Health, 16(3).
  2. Silva de Araujo Figueiredo, C., et al. (2017). Systemic alterations and their oral manifestations in pregnant women. Journal of Obstetrics and Gynaecology Research, 43(1), 16-22.
  3. Wen, X., et al. (2023). The bidirectional relationship between periodontal disease and pregnancy via the interaction of oral microorganisms, hormone and immune response. Frontiers in Microbiology, 14.
  4. Laine, M.A. (2002). Effect of pregnancy on periodontal and dental health. Acta Odontologica Scandinavica, 60(5), 257-264.
  5. Kamalabadi, Y.M., et al. (2023). Unfavourable beliefs about oral health and safety of dental care during pregnancy: a systematic review. BMC Oral Health, 23(1).
  6. Russell, S.L., et al. (2008). Periodontal disease and tooth loss in women. Journal of Periodontology, 79(5), 849-857.
  7. Laine, M., et al. (1986). Pregnancy-related increase in salivary Streptococcus mutans, lactobacilli and IgA. Caries Research, 20(2), 193-200.
  8. Frontiers in Microbiology. (2023). The bidirectional relationship between periodontal disease and pregnancy. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fmicb.2023.1070917/full
  9. Bobetsis, Y.A., et al. (2020). Periodontal disease and adverse pregnancy outcomes. Periodontology 2000, 83(1), 154-174.
  10. Meyer-Wübbold, K., et al. (2020). Schwangerschaft und Mundgesundheit – Zahnärztliche Diagnostik und Therapie schwangerer Patientinnen. zm, 110(6), 48-56.
  11. Patcas, R., et al. (2012). Systemic fluoride in the prevention of dental caries: a systematic review. Swiss Medical Weekly, 142.
  12. Kumar, J., et al. (2023). Oral health of women and children: progress, challenges, and priorities. Maternal and Child Health Journal, 27(5).
  • Besonders gefallen hat mir, das er Behandlungsalternativen aufgezeigt hat, aber nicht die teuerste Behandlungsalternative empfohlen hat. Das schafft echtes Vertrauen!

    5 von 5 Sternen
  • Seit über 20 Jahren werden ich von den Zahnärzten Dres. Lentrodt fachlich äußerst kompetent behandelt und menschlich sehr einfühlsam betreut. Sowohl bei halbjährlichen Untersuchungen als auch bei unvorhersehbaren Zwischenfällen wurde ich stets bestens versorgt. In dieser Praxis fühle ich mich so wohl, dass ich den weiteren Weg (45 km) gern auf mich nehme.

    5 von 5 Sternen
  • Bin seit über 50 Jahren Patient. Von anderen Ärzten wurde Zustand der Zähne immer als vorbildlich bezeichnet (in meiner Zeit außerhalb Münchens).Nur zu empfehlen

    5 von 5 Sternen