In einer Zeit, in der natürliche Heilmethoden zunehmend Beachtung finden, erlebt auch das Ölziehen – eine jahrtausendealte Praktik aus der ayurvedischen Medizin – eine Renaissance in der modernen Zahnheilkunde. Während Patienten vermehrt nach naturbasierten Alternativen zu chemischen Mundspülungen fragen, stehen Zahnmediziner vor der Herausforderung, zwischen traditioneller Weisheit und evidenzbasierter Praxis zu vermitteln. Doch was genau verbirgt sich hinter dieser Methode, und welche wissenschaftlich nachweisbaren Effekte hat das Ölziehen tatsächlich auf die Mundgesundheit?
Traditionelle Wurzeln und moderne Forschung
Das Ölziehen, im Sanskrit als "Kavala Graha" oder "Gandusha" bezeichnet, ist ein fester Bestandteil der ayurvedischen Medizin, deren Ursprünge bis zu 3.000 Jahre zurückreichen. Bei dieser Technik wird ein Esslöffel Pflanzenöl für etwa 15-20 Minuten im Mund hin und her bewegt, zwischen den Zähnen hindurchgezogen und anschließend ausgespuckt. Traditionell wurden dem Ölziehen zahlreiche gesundheitsfördernde Wirkungen zugeschrieben – von der Entgiftung des Körpers über die Stärkung des Zahnfleisches bis hin zur Vorbeugung von Karies und Mundgeruch1.
In der ayurvedischen Tradition kommen verschiedene Ölarten zum Einsatz, wobei Sesamöl historisch am häufigsten verwendet wurde. In jüngerer Zeit hat besonders Kokosöl aufgrund seiner spezifischen Zusammensetzung an Popularität gewonnen. Kokosöl besteht zu etwa 92% aus gesättigten mittelkettigen Fettsäuren, wobei Laurinsäure den Hauptbestandteil bildet, gefolgt von anderen Säuren wie Caprinsäure und Caprylsäure. Die Glykolipidkomponente Saccharosemonolaurate kann Saccharose auf Streptococcus mutans oxidieren, was die Regeneration und Wiederanhaftung von Plaque verhindert und somit kariesprotektive Eigenschaften aufweist2,3.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ölziehen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Eine aktuelle Metaanalyse von Peng et al. (2022) untersuchte neun randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) zur Wirksamkeit des Ölziehens auf die Mundgesundheit. Die Autoren durchsuchten systematisch die Datenbanken PubMed, Cochrane Library und EMBASE nach Studien, die vor dem 31. Juli 2022 veröffentlicht wurden. Eingeschlossen wurden ausschließlich RCTs, die die Wirkung des Ölziehens auf die Verbesserung der Zahngesundheit und Mundhygiene untersuchten4.
Die methodische Qualität der vorhandenen Studien variiert jedoch erheblich. Viele Untersuchungen weisen methodische Schwächen auf, darunter kleine Stichprobengrößen, kurze Beobachtungszeiträume und unzureichende Verblindung. Eine systematische Übersichtsarbeit von Woolley et al. (2020) mit Fokus auf Kokosöl identifizierte lediglich vier RCTs mit insgesamt 182 Teilnehmern, die den Einschlusskriterien entsprachen. Die Studiendauer lag zwischen 7 und 14 Tagen – ein relativ kurzer Zeitraum, um langfristige Effekte zu beurteilen5.
Diese methodischen Limitationen führen dazu, dass die Evidenzlage zum Ölziehen insgesamt als begrenzt einzustufen ist. Dennoch liefern die vorhandenen Studien wertvolle Hinweise auf potenzielle Wirkungsmechanismen und klinische Effekte, die eine differenzierte Betrachtung dieser traditionellen Methode im Kontext moderner Zahnmedizin ermöglichen.
Wirkungsmechanismen und klinische Effekte
Die Wirkungsweise des Ölziehens wird auf verschiedene Mechanismen zurückgeführt. Zum einen wird angenommen, dass die mechanische Bewegung des Öls im Mund zu einer Reduktion der Plaque beiträgt, ähnlich wie bei konventionellen Mundspülungen. Zum anderen scheinen die chemischen Eigenschaften der verwendeten Öle eine entscheidende Rolle zu spielen. Bei Kokosöl wird vermutet, dass die enthaltene Laurinsäure und andere mittelkettige Fettsäuren antimikrobielle Eigenschaften besitzen, die gegen orale Pathogene wirken können6.
Ein weiterer diskutierter Mechanismus ist die sogenannte "Verseifung" oder "Saponifikation". Durch das längere Verweilen im Mund und die Vermischung mit Speichel kommt es zu einer Emulgierung des Öls, wodurch es eine milchig-weiße Konsistenz annimmt. Diese Emulsion könnte Bakterien und deren Toxine binden und beim Ausspucken aus der Mundhöhle entfernen7.
Die klinischen Effekte des Ölziehens wurden in verschiedenen Studien untersucht, wobei die Ergebnisse teilweise widersprüchlich sind. Die Metaanalyse von Peng et al. (2022) zeigte, dass die Anzahl der Bakterienkolonien im Speichel durch Ölziehen signifikant reduziert werden konnte im Vergleich zur Kontrollgruppe (mittlere Differenz: 17,55; 95% KI 2,56, 32,55). Hinsichtlich des Plaque-Index und des Gingiva-Index konnten jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen der Ölzieh-Gruppe und der Kontrollgruppe festgestellt werden (mittlere Differenz: −0,10; 95% KI −0,33, 0,14 bzw. −0,05; 95% KI −0,12, 0,02)4.
Die systematische Übersichtsarbeit von Woolley et al. (2020) zu Kokosöl kam zu ähnlichen Ergebnissen. Signifikante Unterschiede wurden für die Reduktion der Bakterienkolonien im Speichel (p = 0,03) und den Plaque-Index-Score (p < 0,001) nachgewiesen. Eine Studie zeigte zudem einen signifikanten Vorteil hinsichtlich der Verfärbungen im Vergleich zu Chlorhexidin (p = 0,0002)5.
Im Vergleich zu konventionellen Mundspülungen mit Chlorhexidin, dem derzeitigen Goldstandard in der chemischen Plaquekontrolle, scheint das Ölziehen in einigen Parametern ähnlich wirksam zu sein. Chlorhexidin weist jedoch bekannte Nebenwirkungen wie Zahnverfärbungen, Geschmacksveränderungen und Schleimhautirritationen auf, die beim Ölziehen nicht beobachtet wurden8. Dies könnte einen potenziellen Vorteil des Ölziehens darstellen, insbesondere bei Langzeitanwendung.
Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse ist zu beachten, dass die meisten Studien methodische Limitationen aufweisen. Die kurze Studiendauer, kleine Stichprobengrößen und unterschiedliche Messmethoden erschweren die Vergleichbarkeit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Zudem fehlen Langzeitstudien, die die Nachhaltigkeit der beobachteten Effekte untersuchen.
Praktische Anwendung in der modernen Zahnmedizin
Für die Integration des Ölziehens in die moderne Zahnmedizin ergeben sich verschiedene Ansatzpunkte. Basierend auf den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen kann das Ölziehen als ergänzende Maßnahme zur konventionellen Mundhygiene in Betracht gezogen werden, jedoch nicht als Ersatz für etablierte Methoden wie Zähneputzen, Zahnseide oder professionelle Zahnreinigung.
Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) hat bislang keine spezifische Stellungnahme zum Ölziehen veröffentlicht. Die DAK-Gesundheit weist jedoch darauf hin, dass einige Studien positive Effekte des Ölziehens auf die Mundgesundheit nahelegen, betont aber gleichzeitig die Notwendigkeit weiterer Forschung9.
Für die praktische Anwendung in der Zahnarztpraxis lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:
Patientenberatung: Patienten, die Interesse am Ölziehen zeigen, sollten über die begrenzte Evidenzlage informiert werden. Gleichzeitig kann auf potenzielle Vorteile wie die Reduktion von Bakterien im Speichel und mögliche positive Effekte auf Plaque und Gingivitis hingewiesen werden. Die Beratung sollte stets individuell erfolgen und die spezifische Mundgesundheitssituation des Patienten berücksichtigen.
Durchführung: Für die korrekte Durchführung des Ölziehens empfiehlt sich die Verwendung von etwa einem Esslöffel (ca. 10 ml) Öl, vorzugsweise Kokos- oder Sesamöl. Das Öl sollte morgens auf nüchternen Magen für 15-20 Minuten im Mund bewegt und zwischen den Zähnen hindurchgezogen werden, bis es eine milchig-weiße Konsistenz annimmt. Anschließend wird das Öl ausgespuckt (nicht verschluckt) und der Mund mit warmem Wasser ausgespült. Danach sollte die reguläre Mundhygiene mit Zahnbürste und Zahnpasta erfolgen10.
Integration in Prophylaxekonzepte: Das Ölziehen kann als zusätzliche Maßnahme in bestehende Prophylaxekonzepte integriert werden, insbesondere für Patienten mit erhöhtem Karies- oder Parodontitisrisiko. Es bietet sich auch als Alternative für Patienten an, die chemische Mundspülungen nicht vertragen oder ablehnen.
Dokumentation und Verlaufskontrolle: Bei Patienten, die das Ölziehen praktizieren, sollten regelmäßige Kontrollen der Mundgesundheitsparameter erfolgen, um individuelle Effekte zu dokumentieren und die Compliance zu fördern.
Aus wirtschaftlicher und organisatorischer Sicht ist das Ölziehen eine kostengünstige Maßnahme, die von Patienten selbstständig zu Hause durchgeführt werden kann. Die Materialkosten sind gering, und es sind keine speziellen Geräte oder Techniken erforderlich. Dies könnte insbesondere für Patienten mit begrenzten finanziellen Ressourcen von Vorteil sein.
Eine Herausforderung stellt jedoch die Compliance dar, da das Ölziehen mit einem relativ hohen Zeitaufwand verbunden ist. Die empfohlene Dauer von 15-20 Minuten könnte für viele Patienten im hektischen Alltag schwer umsetzbar sein. Hier sind individuelle Beratung und Motivation durch das zahnmedizinische Fachpersonal gefragt.
Zukunftsperspektiven und Forschungsbedarf
Trotz des wachsenden Interesses am Ölziehen besteht weiterhin erheblicher Forschungsbedarf. Zukünftige Studien sollten methodisch hochwertiger gestaltet sein, mit größeren Stichproben, längeren Beobachtungszeiträumen und standardisierten Messmethoden. Besonders wichtig wären Langzeitstudien, die die Nachhaltigkeit der Effekte des Ölziehens untersuchen und mögliche Auswirkungen auf die Mundgesundheit über Jahre hinweg dokumentieren.
Ein vielversprechender Forschungsansatz ist die Untersuchung spezifischer Patientengruppen, die möglicherweise besonders von der Methode profitieren könnten. Dazu zählen Patienten mit Xerostomie (Mundtrockenheit), Halitosis (Mundgeruch) oder erhöhter Anfälligkeit für Gingivitis und Parodontitis. Auch die Wirkung des Ölziehens bei Patienten mit eingeschränkter manueller Geschicklichkeit oder kognitiven Einschränkungen, die Schwierigkeiten mit konventionellen Mundhygienemaßnahmen haben, wäre ein interessantes Forschungsfeld.
Die Kombination des Ölziehens mit anderen präventiven Maßnahmen könnte ebenfalls untersucht werden. Denkbar wäre beispielsweise die Integration in multimodale Präventionskonzepte, die neben mechanischer Plaquekontrolle auch Ernährungsberatung, Fluoridierung und regelmäßige professionelle Zahnreinigungen umfassen.
Ein weiterer Aspekt, der mehr Aufmerksamkeit verdient, ist die Untersuchung verschiedener Ölarten und ihrer spezifischen Wirkungen. Neben Kokos- und Sesamöl könnten auch andere Öle mit potenziell antimikrobiellen Eigenschaften, wie Teebaumöl oder Olivenöl, auf ihre Wirksamkeit bei der Verbesserung der Mundgesundheit getestet werden.
Im deutschsprachigen Raum wurde 2017 eine klinische Studie zum Ölziehen im Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS) registriert, die den Einfluss des Ölziehens auf verschiedene Mundgesundheitsparameter untersuchen sollte11. Die Ergebnisse solcher Studien könnten dazu beitragen, die Evidenzlage zu verbessern und spezifischere Empfehlungen für die zahnmedizinische Praxis zu entwickeln.
Langfristig könnte das Ölziehen, bei entsprechender wissenschaftlicher Absicherung, einen festen Platz in der präventiven Zahnmedizin einnehmen – als komplementäre Methode, die traditionelles Wissen mit moderner Wissenschaft verbindet und Patienten eine natürliche Option zur Unterstützung ihrer Mundgesundheit bietet.
Zwischen Tradition und Evidenz
Das Ölziehen steht exemplarisch für die Herausforderung, traditionelle Heilmethoden im Kontext evidenzbasierter Medizin zu bewerten. Die aktuelle Studienlage deutet darauf hin, dass das Ölziehen positive Effekte auf bestimmte Aspekte der Mundgesundheit haben kann, insbesondere auf die Reduktion von Bakterien im Speichel. Die Evidenz ist jedoch begrenzt, und die methodische Qualität vieler Studien lässt zu wünschen übrig.
Für die zahnmedizinische Praxis bedeutet dies, dass das Ölziehen als ergänzende Maßnahme zur konventionellen Mundhygiene in Betracht gezogen werden kann, jedoch nicht als Ersatz für etablierte Methoden. Die Beratung sollte individuell erfolgen und sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch die persönlichen Präferenzen und Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen.
Ein besonderer Vorteil des Ölziehens liegt in seiner Natürlichkeit und den geringen Kosten, was es zu einer zugänglichen Option für viele Patienten macht. Zudem wurden bisher keine nennenswerten Nebenwirkungen berichtet, was für eine gute Verträglichkeit spricht.
Die Zukunft des Ölziehens in der modernen Zahnmedizin wird maßgeblich von der weiteren Forschung abhängen. Hochwertige klinische Studien mit längeren Beobachtungszeiträumen und standardisierten Messmethoden sind notwendig, um die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit dieser traditionellen Methode zu bestätigen und spezifischere Empfehlungen zu entwickeln.
In einer Zeit, in der Patienten zunehmend nach natürlichen und ganzheitlichen Ansätzen für ihre Gesundheit suchen, bietet das Ölziehen eine interessante Brücke zwischen traditioneller Weisheit und moderner Zahnmedizin. Mit der richtigen wissenschaftlichen Fundierung könnte es zu einem wertvollen Baustein in der präventiven Zahnheilkunde werden – nicht als revolutionäre Neuerung, sondern als bewährte Tradition, die ihren Platz in der evidenzbasierten Praxis findet.
Quellen
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- Peng TR, Cheng HY, Wu TW, Ng BK. Effectiveness of Oil Pulling for Improving Oral Health: A Meta-Analysis. Healthcare (Basel). 2022;10(10):1991. doi:10.3390/healthcare10101991
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