Mythos und Realität der Röntgenstrahlen

Mythos und Realität der Röntgenstrahlen

Die zahnmedizinische Diagnostik hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt. Röntgenaufnahmen sind dabei zu einem unverzichtbaren Werkzeug geworden, das Zahnärzten ermöglicht, verborgene Pathologien zu erkennen. Von der einfachen Einzelzahnaufnahme bis zur dreidimensionalen digitalen Volumentomographie (DVT) – die bildgebenden Verfahren liefern wertvolle Informationen für Diagnose und Therapieplanung. Doch mit der zunehmenden Häufigkeit dieser Untersuchungen wächst auch die Besorgnis über potenzielle Gesundheitsrisiken durch die damit verbundene Strahlenexposition.

Während die ersten Röntgenaufnahmen noch mit erheblichen Strahlenbelastungen verbunden waren, hat die Entwicklung moderner digitaler Technologien die Strahlendosis drastisch reduziert. Dennoch bleibt die Frage nach möglichen langfristigen Auswirkungen auch geringer Strahlendosen ein Thema, das sowohl Patienten als auch Behandler beschäftigt.

Strahlendosis im Vergleich

Moderne digitale Einzelzahnaufnahmen verursachen eine effektive Dosis von etwa 1-8 μSv pro Aufnahme9. Eine Panoramaaufnahme liegt mit etwa 4-30 μSv etwas höher, während eine digitale Volumentomographie je nach Aufnahmevolumen zwischen 5-652 μSv liegen kann2. Zum Vergleich: Die natürliche Hintergrundstrahlung beträgt durchschnittlich etwa 3,1 mSv (3.100 μSv) pro Jahr oder etwa 8,5 μSv pro Tag11.

Diese Zahlen verdeutlichen: Eine einzelne zahnmedizinische Röntgenaufnahme entspricht in etwa der natürlichen Strahlenbelastung, der wir innerhalb weniger Stunden bis Tage ohnehin ausgesetzt sind. Besonders beeindruckend ist der Vergleich mit anderen medizinischen Bildgebungsverfahren: Eine Computertomographie des Kopfes verursacht mit etwa 2.000 μSv eine um ein Vielfaches höhere Strahlenbelastung10.

Die technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat zu einer kontinuierlichen Reduktion der Strahlendosis geführt. Der Übergang von analogen Filmaufnahmen zu digitalen Sensoren ermöglichte eine Dosisreduktion um bis zu 80-90%1.

Evidenz statt Mutmaßungen

Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit von Wiklander et al. (2025) untersuchte die Evidenz für negative Gesundheitseffekte durch Zahnröntgen bei Kindern und Jugendlichen1. Die Autoren analysierten 18 Studien, darunter 11 Primärstudien und 7 systematische Reviews. Das ernüchternde Ergebnis: Keine der eingeschlossenen Studien konnte die strengen Qualitätskriterien erfüllen. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es eine erhebliche Wissenslücke bezüglich negativer Effekte von Zahnröntgenaufnahmen gibt.

Die methodischen Schwächen der vorhandenen Studien sind vielfältig. Ein zentrales Problem ist der sogenannte Recall-Bias: Patienten können sich oft nicht zuverlässig an die Anzahl und Art der Röntgenaufnahmen erinnern, die sie im Laufe ihres Lebens erhalten haben. Zudem werden in vielen Studien andere Strahlenquellen, wie medizinische CT-Untersuchungen, nicht ausreichend berücksichtigt.

Trotz dieser methodischen Einschränkungen haben einige Studien mögliche Zusammenhänge zwischen zahnmedizinischen Röntgenaufnahmen und bestimmten Erkrankungen untersucht. Claus et al. (2012) fanden ein leicht erhöhtes Risiko für Meningeome bei Patienten, die häufig Bissflügelaufnahmen erhalten hatten4. Neta et al. (2013) untersuchten den Zusammenhang zwischen Zahnröntgenaufnahmen und Schilddrüsenkrebs und fanden ein leicht erhöhtes Risiko5. Beide Studien wiesen jedoch erhebliche methodische Schwächen auf.

Ein wichtiger Aspekt bei der Bewertung potenzieller Risiken ist das Alter der Patienten. Kinder und Jugendliche gelten als besonders strahlensensibel, da sich ihre Zellen schneller teilen und sie eine längere Lebenserwartung haben. Die Europäische Akademie für Kinderzahnheilkunde (EAPD) hat daher spezielle Leitlinien für die Anwendung von Röntgenaufnahmen bei Kindern und Jugendlichen entwickelt17.

Moderne Strategien zum Strahlenschutz

Die Umsetzung eines optimalen Strahlenschutzes in der zahnmedizinischen Praxis basiert auf drei fundamentalen Prinzipien: Rechtfertigung, Optimierung und Dosisbegrenzung16.

Das Prinzip der Rechtfertigung fordert, dass jede Röntgenaufnahme einen erwarteten Nutzen haben muss, der das potenzielle Strahlenrisiko überwiegt. In der Praxis bedeutet dies, dass Röntgenaufnahmen nicht routinemäßig in festen Intervallen, sondern stets individuell nach klinischem Befund indiziert werden sollten9.

Die Optimierung zielt darauf ab, die Strahlendosis so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar zu halten (ALARA-Prinzip). Dies umfasst technische, organisatorische und personelle Maßnahmen wie die Verwendung der schnellsten verfügbaren Sensoren und die Verwendung von Rechteckblenden statt runder Tubusbegrenzung2.

Ein besonders interessanter Aspekt der aktuellen Strahlenschutzdiskussion betrifft die Verwendung von Bleischürzen und Schilddrüsenschutz. Während diese Schutzmaßnahmen jahrzehntelang als Standard galten, haben mehrere Fachgesellschaften ihre Empfehlungen in den letzten Jahren revidiert18, 19. Der Grund: Bei modernen, korrekt eingestellten Röntgengeräten mit präziser Kollimation ist der zusätzliche Schutzeffekt dieser Maßnahmen vernachlässigbar.

Digitale Technologien minimieren die Strahlenbelastung

Die Zukunft der zahnmedizinischen Bildgebung wird maßgeblich durch technologische Innovationen geprägt sein. Besonders vielversprechend ist der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI), die bereits heute die zahnmedizinische Diagnostik revolutioniert.

KI-basierte Bildanalysesysteme können aus Röntgenaufnahmen mit geringerer Strahlendosis mehr diagnostische Informationen extrahieren als das menschliche Auge12. Diese Technologie ermöglicht es, die Expositionsparameter zu reduzieren, ohne diagnostische Kompromisse einzugehen.

Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist die Entwicklung neuer Detektortechnologien mit höherer Empfindlichkeit. Auch bei der dreidimensionalen Bildgebung sind bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen. Neue CBCT-Systeme arbeiten mit adaptiven Belichtungsprotokollen, die die Strahlendosis dynamisch an die individuelle Anatomie des Patienten anpassen3.

Ein besonders interessanter Forschungsansatz ist die Entwicklung alternativer bildgebender Verfahren, die ganz ohne ionisierende Strahlung auskommen. Optische Kohärenztomographie (OCT) und Nahinfrarot-Transillumination (NIRT) sind zwei Technologien, die für bestimmte diagnostische Fragestellungen bereits heute eine strahlungsfreie Alternative bieten können15.

Strahlenschutz als gemeinsame Verantwortung

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Strahlenschutz in der Zahnmedizin zeigt: Die tatsächliche Strahlenbelastung durch moderne digitale Röntgenverfahren ist gering und das damit verbundene Gesundheitsrisiko bei korrekter Anwendung minimal. Dennoch bleibt der verantwortungsvolle Umgang mit ionisierender Strahlung ein zentrales Element der zahnmedizinischen Ethik und Praxis.

Die aktuelle Studienlage zu potenziellen Gesundheitsrisiken weist erhebliche methodische Limitationen auf und lässt keine definitiven Schlussfolgerungen zu. Dies unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschung mit verbesserten Methoden. Bis dahin bleibt das Vorsorgeprinzip die Leitlinie für den klinischen Alltag.

Der Strahlenschutz in der Zahnmedizin ist eine gemeinsame Verantwortung von Zahnärzten, Industrie und Forschung. Letztendlich geht es darum, eine Balance zu finden: zwischen dem unbestreitbaren diagnostischen Nutzen zahnmedizinischer Röntgenaufnahmen und dem Prinzip, jede unnötige Strahlenexposition zu vermeiden.

Quellenverzeichnis
  1. Wiklander L, et al. Negative health effects of dental X-rays: A systematic review. PLoS One. 2025;20(5):e0323808.
  2. Benavides E, et al. Optimizing radiation safety in dentistry. J Am Dent Assoc. 2024.
  3. Memon A, et al. Dental X-rays and the risk of thyroid cancer and meningioma: A systematic review and meta-analysis. Thyroid. 2019;29(11):1572-1593.
  4. Claus EB, et al. Dental x-rays and risk of meningioma. Cancer. 2012;118(18):4530-4537.
  5. Neta G, et al. A prospective study of medical diagnostic radiography and risk of thyroid cancer. Am J Epidemiol. 2013;177(8):800-809.
  6. American Dental Association. Dental Radiographs: Benefits and Safety. ADA. 2024.
  7. Environmental Protection Agency. Frequent Questions: Radiation in Medicine. EPA. 2025.
  8. Goyal Dentistry. How Much Radiation Is in Digital Dental X-Rays? A Safety Guide. 2024.
  9. Overjet. AI Dental Imaging vs Digital X-Rays vs Traditional Imaging. 2025.
  10. Dental Tribune. A new era in US dental imaging: AI-driven, safe and patient-centric solutions. 2024.
  11. International Commission on Radiological Protection (ICRP). Radiological Protection in Cone Beam Computed Tomography (CBCT). ICRP Publication 129. Ann. ICRP. 2015;44(1).
  12. European Academy of Paediatric Dentistry. Best clinical practice guidance for prescribing dental radiographs in children and adolescents: an EAPD policy document. Eur Arch Paediatr Dent. 2020;21:375-386.
  13. Texas State Board of Dental Examiners. Stakeholder Meeting Notice: Lead Apron Use. 2024.
  14. Dimensions of Dental Hygiene. Rethinking Patient Shielding in Dental Radiography. 2024.